Am Vortag hatte sie das erste Mal den Heiligabend mit ihren drei Söhnen alleine gefeiert.
Sie fühlte sich dabei wie auf einer Streckbank an deren Fußende die Erleichterung stand, während am Kopfende der Verlust und ihre christliche Erziehung an ihren Armen zerrten.
Sie hatte versagt. Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen. Hin und wieder konnte sie sich einreden, sie habe es wegen ihrer Kinder getan und das wirkte auf ihre moralischen Zweifel wie ein Balsam.
Das Klingeln der Haustür ließ sie aufschrecken. Wer würde an Weihnachten so spät noch zu Besuch kommen?
Ihr ältester Sohn riss sich von seinem Spiel los, das er geschenkt bekommen hatte und lief zur Haustür.
Sie folgte ihm und verfolgte mit Unglauben, wie vor der sich öffnenden Tür ihr Mann stand.
Der Sohn stand wie angewachsen in der Tür und konnte sich nicht regen. Sein Vater direkt vor ihm. Sein mittellanges, natürlich gewelltes Haar, das er sonst ordentlich nach hinten gekämmt hatte, fiel ihm in Strähnen ins Gesicht. Sein Atem erzählte von „Ernte 23“ und einigen Bier in der Bahnhofskneipe. Die glasigen Augen seines Vaters, die über ihn hinwegglitten und schlingernd ein Ziel hinter ihm fixierten, verzichteten auf ein Dementi. Er trat unter dem Blick hervor, als könnte dieser auf ihn herabfallen, wie ein Schwert. Er drückte sich an die Wand und wusste nicht, ob er seinen Vater oder seine Mutter ansehen sollte.
Plötzlich fiel sein Vater auf die Knie. Er hatte ihn schon oft wanken, doch noch nie fallen sehen, egal wie betrunken er nach Hause gekommen war. Allein die Augen hatten immer einen Anhaltspunkt geliefert, ob er gewalttätig werden würde oder sich in Selbstmitleid ergoss. Doch es machte keinen Unterschied, denn wie sollte er sich in „Sicherheit“ bringen, solange seine Mutter nicht das Weite suchte.
Heute sah er nicht gefährlich aus, doch das konnte schnell umschlagen.
Auch dieser bemitleidenswerte Zustand barg eine Gefahr, nämlich dass sich seine Mutter bequatschen lassen würde und der feuchte Schimmer in ihren Augen verrieten ihm, dass sie schon wieder begann weich zu werden.
„Lass es uns noch einmal probieren. Ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe, aber ich kann nicht ohne Dich leben. Mit Dir kann ich es schaffen, vom Alkohol los zu kommen, …“
Der Junge hatte schon abgeschaltet. Er kannte diese Beteuerungen auswendig. Er glaubte seinem Vater sogar, dass dieser das ehrlich meinte, hatte jedoch gelernt, wie wenig schon nach kürzester Zeit davon übrig blieb. Voller Sorge fiel sein Blick auf seine Mutter.
Sie regte sich nicht. Noch vor einigen Tagen wäre sie zu ihm gelaufen, um zu sehen, wie es ihm geht.
Sein Vater kroch auf Knien zu seiner Frau, vorbei an seinem Sohn der nicht wusste, ob Abscheu, Scham, Mitleid oder Zorn in ihm die Oberhand gewinnen würden. Ketten schienen ihn an die Wand zu fesseln. Alles außer seinen Augen war gelähmt und selbst diese konnten die Bilder kaum aufnehmen. Gebannt beobachtete er die Züge seiner Mutter, war erschreckt und erleichtert über die Härte in ihrem Blick, auch wenn sie am ganzen Körper zitterte.
„Steh auf!“ sagte sie mit ruhiger, kalter, scharfer Stimme.
„Wie kannst Du nur glauben, in diesem Zustand etwas erreichen zu können.“
„Bitte lass mich nicht hängen.“ bettelte er mit stolpernder Zunge.
„Ich kann Dich nicht tragen, wenn Du Dich selbst kaputt machst. Geh!“
Das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Geh!“ Dieses Mal fester und lauter.
Schwerfällig stand er auf, wankte und öffnete den Mund, aber die Worte blieben an seiner Zunge kleben, die Schultern fielen noch ein Stück nach unten und er trat einige Schritte zurück. Als er sich umwandte fiel sein Blick kurz auf seinen Sohn, Schamesröte schoss ihm ins Gesicht und er schlug seine Augen nieder. Vor der Tür schien er sich noch einmal umdrehen zu wollen, aber da hatte sie die Tür auch schon geschlossen. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen als wolle sie einen Ansturm abwehren. Mit einer Hand zog sie ihren Sohn an sich und sie stützten sich gegenseitig.