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Unwetter

Auf dem Weg vom Bahnhof suche ich mit meiner freien Hand den Schlüssel in meiner Hosentasche. Den Kopf eingezogen, beuge ich mich gegen den Wind und beschleunige meine Schritte, weil die ersten dicken Tropfen auf meine Schultern schlagen. Bis ich die Haustür erreiche ist die Vorderseite meines Hemdes durchnässt. Am Briefkasten begegne ich unserem Hausmeister, der mich fragt, ob ich ein paar Kräuter vermisse. Da ich am Wochenende – wie annähernd jedesmal seit 18 Monaten – nicht zuhause war, kann ich die Frage nicht beantworten. Ich folge ihm also in den Garten hinter dem Haus. Dort steht mitten auf dem Rasen ein Pflanztrog, der mir auffallend bekannt ist.
Die Vorstellung, dass dieser am Samstag aus dem dritten Obergeschoss auf dem Rasen eingeschlagen ist erschreckt mich. Ein echtes Geschoss – ein Obergeschoss (ja, ich gebe zu, ein flauer Witz).
Einschläge dieser und anderer Art treffen in letzter Zeit des öfteren in die Beete meines Lebens. Immer wieder werden sorgsam gepflegte Rabatten vom Sturm zerzaust, fast reife Ernten vernichtet, frisch geputze Fenster vom Platzregen eingesaut (wer mich kennt, weiß, dass das nur im übertragenen Sinn gemeint sein kann).
Doch am Wochenende fahre ich in sichere Gefilde. Dort ist das schlechte Wetter – unabhängig von den meteorologischen Gegebenheiten – vergessen.

Es brennt

sodbrennenLeuchtend rot flimmert meine Speiseröhre in der Dunkelheit des Zimmers.
Eine Reflux-Ösophagitis lugt lauernd um die Ecke.
Die Nacht schreitet fort, doch der Schlaf bleibt auf der Strecke.
Nicko McBrain malträtiert meine Schläfen und vor meinen geschlossenen Augen blitzt ein Feuerwerk, das der Jahrtausendwende alle Ehre gemacht hätte. Doch mein Wecker droht ungerührt mit dem baldigen Weckruf.

Mit Heilerde versuche ich den Brand einzudämmen, der jedoch immer wieder schmerzhaft aufflammt. Mein Magen scheint mich heute für alle jemals begangenen Sünden bestrafen zu wollen.

Mea culpa, mea culpa, …

Doch wäre das nicht auch zu einer Zeit möglich gewesen, zu der Ärzte und Apotheker ihrer heilsamen Arbeit nachgehen?

Nicht vergessen: Innere Uhr kalibrieren!

Nach Tagen feststellen, dass man erst gestern angekommen ist.

Wenige Minuten nach dem Erwachen voller Erstaunen erkennen, dass schon Stunden vergangen sind, seit man die Augen geöffnet hat.

3 Stunden Frühstück als kurz empfinden.

Den Menschen ewig kennen, den man vor Wochen das erste Mal sah.

Diesen Menschen das hundertste Mal zum ersten Mal sehen.

Während eines kurzen Telefonats auf dem Display des Telefons „01:48:23“ lesen.

Mein Herz voll, mein Kopf leer

Gemeinsames Alphabet
Sprachloses Blicken
Süßes Sehnen
Aufsaugen und Ausatmen
Versinken und Explodieren
Schweben und Fallen

morgens …

Die Gedanken, die ich Dir morgens schenke, liegen wie ein Zettel auf Deinem Kissen und warten darauf, dass Du erwachst. Dann beginnen sie zu sprießen, dringen mit ihren zarten Trieben in Deine Synapsen vor und lassen Dich im einen Moment glauben, sie seien Rosen, im nächsten Küsse.

ngb

Das Gesicht zerfließt …

Das Gesicht zerfließt
und es bleibt nur die Gewissheit,
dass ich es unter Tausenden
in einem Augenblick finden würde.

Erinnerungen sind wie Eis.
Wenn sie im Lichte stehen,
beginnen sie zu schmelzen.
Wenn man sie mir Händen berührt,
zerfließen sie.

Doch ich brauche kein Bild,
um die Erinnerung aufzufrischen.
Ich höre die Stimme
und es flackert Licht auf,
das die Konturen
aus dem Nichts
erscheinen lässt.

Meine Augen lassen sich fesseln
von ihren Augen,
deren Farbe ich nicht erkenne,
von dem Schwung der Nase,
deren Form ich nicht beschreiben kann,
von den Augenbrauen,
von den Lippen,
und dann
beginnt das Gesicht erneut zu fließen …

„Träumer“ nennt sie mich …

… und ist wohl nicht weit von der Wahrheit entfernt.

Sie glaubt es in meinen Augen zu sehen.
Wie auch immer – ich glaube sie hat Recht.

Ich habe nachts oft so lebhafte und detaillierte Träume, dass ich sie nach ein oder zwei Tagen nur noch anhand damit verbundener Skurilitäten in das Reich der Träume zurück verbannen kann.

Andererseits, als ich gestern abend im Zug aus einem kurzen Schlaf erwachte, benötigte ich einige Minuten, um aus meinen Erinnerungen der letzten 24 Stunden den Schluss zu ziehen, dass es sich um die Realität handelte.

So stark die Eindrücke sind, so unwirklich scheinen mir manche Momente.
Eine zeitliche Einordnung scheint unmöglich. Ich kann gefühlte Stunden nicht in 30 reale Minuten unterbringen. Schlaflose Stunden verfliegen wie Minuten.
Die Decke des Schlafzimmers ist auch noch in der Dunkelheit ein verlässlicher Anker für meine Gedanken.
Details wachsen in meinem Bewusstsein, so dass ein Augenpaar jede Erinnerung an die Kleidung überdeckt. Hatte ich schwarze Stiefel gesehen? Ein Lächeln löscht das kürzlich Gehörte, wie ein Magnet die Daten einer Diskette.

Ich kann auf dem Wasser gehen, aber ich stolpere über die Wellen …

Turbulentes Vakuum

Semipermeable Wand
Gewachsen
Gebaut

Außen sickert ein
Innen ist gefangen
Rufe ungehört

Sich erklärt
Selbst nicht verstanden

Als richtig erkannt
Nicht akzeptiert

In der Fremde gesucht
Im Selbst gefunden

Ersehnt
Erhalten
Ernüchtert

Verpatzt
Verletzt
Verwirrt

Stumme Explosionen im Vakuum

Die Meute

Ich hatte sie frei gelassen.

Mit überraschtem Blick hatten sie mich angesehen. „Ja, lauft!“ rief ich ihnen zu und unterstrich dies mit einer Geste. Kurzes Zögern, dann zerstreuten sie sich in alle Winde. Ungestüm wirbelten ihre Beine und hin und wieder wechselten sie abrupt die Richtung, wie um auszuprobieren, ob die Freiheit wirklich echt ist. Ausgelassen warfen sie sich in die Luft, schlüpften neugierig in Höhlen, zwängten sich durch dichtes Gestrüpp, wirbelten Laub auf und versuchten die Blätter zu fangen, ließen sich ins Wasser fallen und schüttelten sich heftig, wenn sie wieder heraus kamen. Sie warfen sich gegenseitig ins Gras und balgten ungestüm.

Ich erfreute mich an ihrer Lebenslust und ließ sie gewähren.

Doch plötzlich stürmten sie mit eingeklemmtem Schwanz zurück und versteckten sich zitternd hinter meinem Rücken. Eine dunkle Wolke senkte sich herab und keiner von ihnen mochte noch etwas von seiner Freiheit wissen oder diese nutzen. Über Wochen wagte keiner von ihnen, einen Fuß in diese bedrohliche Welt zu setzen. Jede Neugier wurde erdrückt von der Angst, die unangenehmen, fremden Seiten der Freiheit zu spüren.

Seit kurzem traut sich der eine oder andere vorsichtig ein Paar Schritte nach draußen zu tun, doch nicht ohne sich zwischendurch mit einem Blick, meiner Nähe zu vergewissern. Langsam lernen sie wieder Freiheit kennen – ob sie jedoch ihre unbeschwerte Freude daran wieder finden werden?

Ein anderes Weihnachten

Am Vortag hatte sie das erste Mal den Heiligabend mit ihren drei Söhnen alleine gefeiert.
Sie fühlte sich dabei wie auf einer Streckbank an deren Fußende die Erleichterung stand, während am Kopfende der Verlust und ihre christliche Erziehung an ihren Armen zerrten.
Sie hatte versagt. Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen. Hin und wieder konnte sie sich einreden, sie habe es wegen ihrer Kinder getan und das wirkte auf ihre moralischen Zweifel wie ein Balsam.

Das Klingeln der Haustür ließ sie aufschrecken. Wer würde an Weihnachten so spät noch zu Besuch kommen?
Ihr ältester Sohn riss sich von seinem Spiel los, das er geschenkt bekommen hatte und lief zur Haustür.
Sie folgte ihm und verfolgte mit Unglauben, wie vor der sich öffnenden Tür ihr Mann stand.

Der Sohn stand wie angewachsen in der Tür und konnte sich nicht regen. Sein Vater direkt vor ihm. Sein mittellanges, natürlich gewelltes Haar, das er sonst ordentlich nach hinten gekämmt hatte, fiel ihm in Strähnen ins Gesicht. Sein Atem erzählte von „Ernte 23“ und einigen Bier in der Bahnhofskneipe. Die glasigen Augen seines Vaters, die über ihn hinwegglitten und schlingernd ein Ziel hinter ihm fixierten, verzichteten auf ein Dementi. Er trat unter dem Blick hervor, als könnte dieser auf ihn herabfallen, wie ein Schwert. Er drückte sich an die Wand und wusste nicht, ob er seinen Vater oder seine Mutter ansehen sollte.

Plötzlich fiel sein Vater auf die Knie. Er hatte ihn schon oft wanken, doch noch nie fallen sehen, egal wie betrunken er nach Hause gekommen war. Allein die Augen hatten immer einen Anhaltspunkt geliefert, ob er gewalttätig werden würde oder sich in Selbstmitleid ergoss. Doch es machte keinen Unterschied, denn wie sollte er sich in „Sicherheit“ bringen, solange seine Mutter nicht das Weite suchte.
Heute sah er nicht gefährlich aus, doch das konnte schnell umschlagen.

Auch dieser bemitleidenswerte Zustand barg eine Gefahr, nämlich dass sich seine Mutter bequatschen lassen würde und der feuchte Schimmer in ihren Augen verrieten ihm, dass sie schon wieder begann weich zu werden.

„Lass es uns noch einmal probieren. Ich weiß, dass ich alles falsch gemacht habe, aber ich kann nicht ohne Dich leben. Mit Dir kann ich es schaffen, vom Alkohol los zu kommen, …“

Der Junge hatte schon abgeschaltet. Er kannte diese Beteuerungen auswendig. Er glaubte seinem Vater sogar, dass dieser das ehrlich meinte, hatte jedoch gelernt, wie wenig schon nach kürzester Zeit davon übrig blieb. Voller Sorge fiel sein Blick auf seine Mutter.

Sie regte sich nicht. Noch vor einigen Tagen wäre sie zu ihm gelaufen, um zu sehen, wie es ihm geht.

Sein Vater kroch auf Knien zu seiner Frau, vorbei an seinem Sohn der nicht wusste, ob Abscheu, Scham, Mitleid oder Zorn in ihm die Oberhand gewinnen würden. Ketten schienen ihn an die Wand zu fesseln. Alles außer seinen Augen war gelähmt und selbst diese konnten die Bilder kaum aufnehmen. Gebannt beobachtete er die Züge seiner Mutter, war erschreckt und erleichtert über die Härte in ihrem Blick, auch wenn sie am ganzen Körper zitterte.

„Steh auf!“ sagte sie mit ruhiger, kalter, scharfer Stimme.
„Wie kannst Du nur glauben, in diesem Zustand etwas erreichen zu können.“

„Bitte lass mich nicht hängen.“ bettelte er mit stolpernder Zunge.

„Ich kann Dich nicht tragen, wenn Du Dich selbst kaputt machst. Geh!“

Das Entsetzen war ihm ins Gesicht geschrieben.

„Geh!“ Dieses Mal fester und lauter.

Schwerfällig stand er auf, wankte und öffnete den Mund, aber die Worte blieben an seiner Zunge kleben, die Schultern fielen noch ein Stück nach unten und er trat einige Schritte zurück. Als er sich umwandte fiel sein Blick kurz auf seinen Sohn, Schamesröte schoss ihm ins Gesicht und er schlug seine Augen nieder. Vor der Tür schien er sich noch einmal umdrehen zu wollen, aber da hatte sie die Tür auch schon geschlossen. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen als wolle sie einen Ansturm abwehren. Mit einer Hand zog sie ihren Sohn an sich und sie stützten sich gegenseitig.