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Die Meute

Ich hatte sie frei gelassen.

Mit überraschtem Blick hatten sie mich angesehen. „Ja, lauft!“ rief ich ihnen zu und unterstrich dies mit einer Geste. Kurzes Zögern, dann zerstreuten sie sich in alle Winde. Ungestüm wirbelten ihre Beine und hin und wieder wechselten sie abrupt die Richtung, wie um auszuprobieren, ob die Freiheit wirklich echt ist. Ausgelassen warfen sie sich in die Luft, schlüpften neugierig in Höhlen, zwängten sich durch dichtes Gestrüpp, wirbelten Laub auf und versuchten die Blätter zu fangen, ließen sich ins Wasser fallen und schüttelten sich heftig, wenn sie wieder heraus kamen. Sie warfen sich gegenseitig ins Gras und balgten ungestüm.

Ich erfreute mich an ihrer Lebenslust und ließ sie gewähren.

Doch plötzlich stürmten sie mit eingeklemmtem Schwanz zurück und versteckten sich zitternd hinter meinem Rücken. Eine dunkle Wolke senkte sich herab und keiner von ihnen mochte noch etwas von seiner Freiheit wissen oder diese nutzen. Über Wochen wagte keiner von ihnen, einen Fuß in diese bedrohliche Welt zu setzen. Jede Neugier wurde erdrückt von der Angst, die unangenehmen, fremden Seiten der Freiheit zu spüren.

Seit kurzem traut sich der eine oder andere vorsichtig ein Paar Schritte nach draußen zu tun, doch nicht ohne sich zwischendurch mit einem Blick, meiner Nähe zu vergewissern. Langsam lernen sie wieder Freiheit kennen – ob sie jedoch ihre unbeschwerte Freude daran wieder finden werden?

Ebbe

Das Wasser scheint lebendig zu werden. Wie Myriaden kleiner Krebse auf unzähligen Beinchen strebt es in alle Richtungen davon. Flüchtet.

Das Boot, das zuvor noch als sicherer Platz und feste Hoffnung erschien, wird erschüttert als sein Kiel sich in den schlammigen Grund bohrt und es kommt mit einem Ruck zum Stillstand. Langsam kippt es zur Seite.

Kleine, braune Inseln tauchen an der Oberfläche auf und wachsen umsichgreifend bis sie sich berühren und miteinander zu einer einzigen öden Fläche verschmelzen.

Das Ziel am Horizont verschwimmt mit dem Watt.

Die Orientierung hat sich klammheimlich davon geschlichen, während der Zweifel und die Angst schmatzend und blubbernd aus der glitschigen Substanz kriecht, die das Boot umgibt.

Zweifel

Schwarze Spinnfäden schweben vor dem Auge. Ungeduldig wische ich sie beiseite. Sie fesseln meine Hände, wickeln sich um meinen Kopf, verdunkeln die Sonne und nehmen mir den Atem.

Angst steigt in mir auf.
Angst und Entschlossenheit.

Nein!
Nicht mit mir!
Nicht ohne Gegenwehr!

Heftig streife ich die Schatten ab.
Tief durchatmen.

Traum

Ich bin etwa 5 Jahre alt und sitze im ablaufenden, lauwarmen Wasser der alten Emaillebadewanne in der schon längst still gelegten Sattlerwerkstatt meines Großvaters. Ich friere, stehe jedoch nicht auf.

Als ich mich umsehen möchte, stoße ich die Flasche mit dem Schaumbad vom Rand der Wanne und der Inhalt ergießt sich in das wenige noch vorhandene Wasser.
Die Franziskanerin Schwester Sigismunda, meine alte, strenge Kindergartenschwester, die wohl die ganze Zeit in ihrem schwarzen Habit hinter mir gestanden haben muss, beginnt laut zu schimpfen.

Ängstlich und zitternd steige ich aus der Wanne und laufe zum schmutzigen Fenster der Werkstatt.
Eine Scheibe des Gitterfensters ist zerbrochen und ich stecke meinen Kopf hindurch, um nach draußen zu sehen. Dort sitzen auf einer Bank meine Großeltern, Eltern und Brüder. Neben der Bank sitzt unser Schäferhund. Als sie mich sehen, lachen sie mich aus, auch der Hund lacht.

In meiner Scham und Angst möchte ich flüchten, kann meinen Kopf aber nicht mehr aus der zerbrochenen Scheibe ziehen. Die Scherben schneiden mir schmerzhaft in den Hals …