Unwetter

Auf dem Weg vom Bahnhof suche ich mit meiner freien Hand den Schlüssel in meiner Hosentasche. Den Kopf eingezogen, beuge ich mich gegen den Wind und beschleunige meine Schritte, weil die ersten dicken Tropfen auf meine Schultern schlagen. Bis ich die Haustür erreiche ist die Vorderseite meines Hemdes durchnässt. Am Briefkasten begegne ich unserem Hausmeister, der mich fragt, ob ich ein paar Kräuter vermisse. Da ich am Wochenende – wie annähernd jedesmal seit 18 Monaten – nicht zuhause war, kann ich die Frage nicht beantworten. Ich folge ihm also in den Garten hinter dem Haus. Dort steht mitten auf dem Rasen ein Pflanztrog, der mir auffallend bekannt ist.
Die Vorstellung, dass dieser am Samstag aus dem dritten Obergeschoss auf dem Rasen eingeschlagen ist erschreckt mich. Ein echtes Geschoss – ein Obergeschoss (ja, ich gebe zu, ein flauer Witz).
Einschläge dieser und anderer Art treffen in letzter Zeit des öfteren in die Beete meines Lebens. Immer wieder werden sorgsam gepflegte Rabatten vom Sturm zerzaust, fast reife Ernten vernichtet, frisch geputze Fenster vom Platzregen eingesaut (wer mich kennt, weiß, dass das nur im übertragenen Sinn gemeint sein kann).
Doch am Wochenende fahre ich in sichere Gefilde. Dort ist das schlechte Wetter – unabhängig von den meteorologischen Gegebenheiten – vergessen.

Sprichworte sind …

… überlieferte Weisheit!

… oder traditioneller Schwachsinn.

Online

Der stechende Schmerz raubte ihm für einen Augenblick den Atem.
Dies war zwar nur eine Redewendung, denn er atmete seit undenklicher Zeit nicht mehr, aber es beschrieb das Gefühl recht gut, das er früher in einer solchen Situation gehabt hätte. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf dieses eine Schmerz-Ereignis gerichtet.
Da ihn dieses heiße Reißen, dass durch seinen Körper schoss aus einem tiefen Schlaf gerissen hatte, benötigte er einen langen Augenblick, um sich zu orientieren. Ein trockenes Lachen entwand sich seiner kratzigen Kehle, denn er hatte seit Jahren nichts mehr anderes gesehen, als die weißen Fließen seiner Zelle, in der sein Liquomodul stand, wo also sollte er schon sein.
Das stimmte nicht ganz, denn natürlich war die meiste Zeit seiner Wachstunden sein Visor aktiv, der ihn mit dem Netz verband. Als einer der ersten, die vor Jahrzehnten an das damals revolutionäre neuronale System angeschlossen wurde, war es ihm noch möglich, selbst zu entscheiden, wann er „online“ war. Doch was durch den Visor in seine Augen projeziert wurde, nannte er nicht „sehen“, weil es für ihn nicht real war. Auch wenn seine „Realität“ nur noch aus dem Teil seiner kahlen Zelle bestand, den er ohne Drehen seines Kopfes sehen konnte, weigerte er sich hartnäckig, dauerhaft in die Scheinrealität des Netzes einzutauchen. Er vermutete schon lange, dass dies wohl der Grund dafür war, dass man seinen Implantaten und deren Software kein Update angedeihen ließ.
Es war ihm nicht mehr möglich, sein Modul zu verlassen, denn seine Muskeln hätten seinen Korper nicht getragen, obwohl er sicher nur noch einen Bruchteil seiner ursprünglichen Masse besaß. Zudem war er sich nicht einmal sicher, ob er noch selbständig atmen könnte, geschweige denn essen.
Die ersten Monate im Liquomodul hatten ihn an den Rand einer Depression gebracht, schon allein deshalb, weil er nicht mehr essen durfte. Er und seine „Kollegen“, von denen er niemanden kannte, wurden künstlich ernährt und inzwischen wurde ihm übel, wenn er nur daran dachte, „Lebensmittel“ zu sich nehmen zu müssen.
Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken wieder zu sammeln und die umgebende Flüssigkeit gluckerte leise.
Die routinierte Kontrolle seiner Vitalfunktionen ließ ihn die Unregelmäßigkeit schnell finden.
Die Dosierung des Medikamentencocktails, der ihm intravenös zugeführt wurde war beunruhigend hoch. Dies lag vermutlich wieder an einer diesen altmodischen Elektroden, die sich in unregelmäßigen Abständen mit Eiter oder anderen unappetitlichen Dingen belegten und dann falsche Werte lieferten.
Ein Zusatzsystem, das nachinstalliert worden war, um an den Symptomen der Fehlfunktion eines anderen Systems „herum zu doktern“, lieferte schon seit Stunden ein Alarmsignal an die „Zentrale“, an deren Existenz er jedoch nicht mehr glaubte, da er von dort schon lange keine Reaktion mehr erhalten hatte.
Wie schon so oft behalf er sich damit, die Elektrode neu zu „kalibrieren“. Nicht dass sie nun wieder richtige Werte geliefert hätte, aber sie regelte die Medikamentenkonzentration wieder auf einen Wert, der ihm „normal“ erschien. Falls sie wieder beginnen sollte – nein, sobald sie wieder begann falsche Werte zu liefern, würde er sie deaktivieren und den Zufluss auf einen konstanten Wert einstellen.
So war er auch vor wenigen Wochen verfahren, als eine andere Messsonde ihren Geist aufgegeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt, wozu diese Sonde diente, inzwischen hatte sich jedoch der Verdacht erhärtet, dass sie die Schlaf-Wach-Phasen geregelt hatte. Zunächst konnte er nämlich nicht mehr einschlafen, was ihn schier verrückt machte. Ein Hochdrehen der Dosierung, der von ihr gesteuerten Flüssigkeit beschehrte ihm einen mehrtägigen Schlaf, was er allerdings nur am Datum seines Visordisplays festgestellt hatte.
Mit dem Nachlassen des Schmerzes meldete sich erneut eine wohlige Müdigkeit, die ihm versprach wieder für eine Weile aus seinem Gefängnis fliehen zu können. Fast wäre er schon eingeschlafen, als ein Gedanke durch sein „Restbewusstsein“ schoss. Welches war der Regler gewesen, den er beim letzten Mal hoch gedreht hatte?
Als er ihn fand, stellte er ihn auf „Max“ und ließ sich in den Schlaf fallen.

Der Neue hat Zeit …

Den ersten Tag hatte ich 8 Stunden Power-Schulung, weil ein Update der Unternehmenssoftware ansteht und ich die Key-User bei den Tests unterstützen soll. Aber bis dahin habe ich ja erst mal „nichts zu tun“ und bekomme die Aufgaben, die in letzter Zeit jeder andere vor sicher hergeschoben hat.
Aber ich würde es wohl genauso machen.
Jeder in dieser EDV-Abteilung muss die Termine einhalten, die andere gesetzt haben.
Also werde ich es machen wie alle. Ich tue was ich kann und zucke mit den Schultern, wenn irgendetwas liegen bleibt.
Irgendwann kommt ein Neuer und der hat dann erst mal Zeit …

Lebensmittelpunkt

Wo wohnst Du?

Tja, äh, also nun …

Wie beantworte ich diese Frage ohne zu lügen und ohne mich zu verhaspeln?

Ich habe eine Wohnung in der Nähe Stuttgarts, die ich vor wenigen Tagen zu Ende 2009 gekündigt habe. Mein Vermieter bietet sie nun zum 01.01.2010 bei verschiedenen Wochenblättern und Arbeitgebern an. Falls ich einen Nachmieter liefere, muss ich nicht bis Dezember bezahlen, aber wenn er vor mir einem Mieter zusagt bezahle ich bis zum Schluss.

Am 08.10.2009 beginne ich bei meinem neuen Arbeitgeber in der Nähe Ulms. Sehr kurzfristig. In der ersten Nacht schlafe ich in einer Pension (wenn ich in den nächsten zwei Stunden eine Zusage für das Zimmer bekomme). Von Donnerstag auf Freitag kann ich bei einer Freundin unterkommen, von deren Wohnort ich nur 40 Minuten mit dem Zug unterwegs bin. Die 3 km zum Bahnhof komme ich mit ihrem Fahrrad. Wäsche muss ich aber schon mal für 2 Wochen mitnehmen, denn am Freitag fahre ich zu meiner Freundin in der Nähe Bruchsals. Sonntag Abend gehts dann wieder Richtung Ulm.

Einen Nachmieter kann ich erst suchen, wenn ich dort eine Wohnung habe. Ohne Auto sollte sie aber nicht zu weit vom Arbeitsplatz entfernt und mit öffentlichem Nahverkehr gut angebunden sein.
Im Internet hatte ich eine tolle Wohnung gefunden, einen Tag vor der Besichtigung rief mich der Vermieter jedoch an, er habe sie einem Gehörlosen versprochen.
Eine andere gefiele mir auch, doch diese ist erst ab Januar frei.
Für eine andere fallen 2,38 Kaltmieten an Provision an, da ich jedoch schon Unterhalt für meinen Sohn bezahle, möchte ich nicht auch noch einem übergewichtigen Immobilienmakler die Steuer für seinen fetten, hässlichen Geländewagen finanzieren.

In dem Ort selbst hätte ich den geringsten finaziellen und zeitlichen Aufwand mit der Fahrerei, allerdings sind dor die Wohnungen teurer. Zudem liegt der Ort in einem Tal, so dass ab Nachmittag sehr früh keine Sonne mehr zu sehen ist.
Am Feierabend auf dem Balkon sonnen? Pustekuchen!

Wann räume ich meine „alte“ Wohnung in Kisten?
Wie komme ich die nächsten Wochen und Monate ins Internet?
Wo ist meine Bank?
Wo steht meine Waschmaschine?

Wo wohnst Du?

Ich habe keinen Schimmer …

Der Mühlhiasl

Sechs Tage vor dem Anfang in einer neuen Firma befinde ich mich im letzten Drittel meines ersten Urlaubs mit meiner Traumfrau.

Sie steht mir bei, wenn mich der Bayerwald zu verschlingen droht.
Nein, ich möchte nicht jammern, denn es ist wirklich schön und sehr erholsam hier. In der Bar ist man auch ungestört, wenn sich außer uns noch zehn andere an den Tischen unterhalten, denn das unverständliche Genuschel kann nicht von der eigenen Unterhaltung ablenken.

Wohlgemerkt, ich bin kein Fischkopf! Ich habe seit 1983 über 25 Jahre in unterschiedlichen Gegenden Bayerns gelebt und hätte bis gestern abend behauptet, ich verstünde alle Bayern. Jetzt muss ich zugeben, es gibt mindesten drei Männer, bei denen ich außer „ja freilich“ (eingedeutscht) kein Wort verstehe.

Auch bei der Besichtigung der berühmten „Gläsernen Scheune“ stand SIE mir zur Seite.
Schon der Nachsatz im Prospekt hätte mich misstrauisch machen müssen.

„Bekannt aus Funk und Fernsehen!“

Bei der Werbung mit dem Zigarettencowboy, der lila Kuh oder dem Toilettenpapierbär hat dieser Hinweis jeweils gefehlt. Wozu sollte er auch gut sein? Wenn mir etwas aus Funk und Fernsehen bekannt ist, muss mir niemand sagen, dass es mir aus Funk und Fernsehen bekannt ist, denn schließlich ist es mir ja aus Funk und Fernsehen bekannt.

Die „Gläserne Scheune“ kannte ich nicht.
Doch ich werde sie nicht vergessen!

Ein bayerwälder „Künstler“ sah sich bemüßigt, lokale Mythen um den „Mühlhiasl“ (In deutsch: Mühlen-Matthias) mit Bleistift und anderen Werkzeugen auf die Scheiben einer Scheune zu malen.

Erklärt wurden diese Werke von einer Frauenstimme aus einem Tonband.
Der Tonfall erinnerte mich an die Erzählerinnen aus den Märchengärten meiner Jugend. Dort ging man auf Trampelpfaden von einem kleinen Häuschen zum nächsten, drückte dort auf einen Knopf und schon begannen die Figuren dort quietschend und ratternd mit Armen und Köpfen zu wackeln, dass man sie am liebsten sofort von ihrem harten Los erlöst hätte.

Das schlimmste war jedoch immer die Stimme der Erzählerin, die mit einem sprach, als sei man ein kleines Kind, dabei war ich doch schon zehn!

Nun weiß ich wohin es diese Frau verschlagen hat.
Und sie hat die 30 Jahre genutzt, um Bayrisch zu lernen.

In Lohn und Brot

„… würden wir uns freuen, Sie in unserem Hause zu einem Vorstellungsgespräch begrüßen zu dürfen.“

Na also! Das hatte ich schon lange nicht mehr gehört!

Nicht, dass ich Komplexe bezüglich meiner Fähigkeiten hätte, aber so ein paar Monate Arbeitslosigkeit zehren an den Nerven.

Der Leiter des EDV-Abteilung und eine Mitarbeiterin vom „Personal“ sitzen mir gegenüber.
Es kommen die „üblichen“ Fragen.

  • Was sind ihre Stärken und ihre Schwächen?
  • Wie gehen Sie mit Druck um?
  • Wie gehen Sie an ein Projekt ran?

„Sie hören in den nächsten beiden Wochen von uns …“

Das Gespräch verlief gut und ich mache mir Hoffnungen.

Am nächsten Tag kommt eine Email: „… haben unser Interesse geweckt … würde in einem weiteren Gespräch gerne noch einige Frahen klären …“

Heute also das zweite Gespräch.
Nochmal ein gegenseitiges Abklopfen, wobei mir heute vier Personen gegenüber sitzen.

Geschäftsführer, Personalverantwortliche, Abteilungsleiter und langjähriger Mitarbeiter.

Angenehmes Gespräch, einige formelle Fragen, Gehalt geklärt.

Mit der Email mit Wohnungsangeboten aus der Region noch mal der Dank für das „angenehme Gespräch“ das als „sehr positiv“ empfunden wurde.

Arbeiten ist schön …

„Total“ oder „Eine ganz normale Bahnfahrt“

Die junge Dame mit vorstehender Unterlippe und herabhängenden Mundwinkeln liest konzentriert in der aktuellen Ausgabe „Das neue Echo der Frau mit Herz von Heute im Spiegel“ (Vielleicht war es auch eines der anderen Blätter, deren wichtigstes Interpunktionszeichen das Fragezeichen ist, um Verleumdungsklagen zu vermeiden).

„Hat Sie ein Alkoholproblem?“

prangt auf einer bunten Seite.

(Diese Frage bezog sich in der aktuellen Ausgabe auf eine bestimmte Sängerin, diese Sentenz wird jedoch sicher als Textbaustein gespeichert, da sie ohne Anpassung später noch für diverse Schauspielerinnen, Girlies oder Prinzessinnen verwendet werde kann.)

Neben den Fragezeichen gibt es auch noch Text.

Wenig – Sehr wenig!

Und große Bilder!

Über einer anderen Seite lautet die Headline

Wasserspiele

Ebenfalls wenig Text neben einem großen, jedoch etwas körnigen Bild.

(Klar! Was soll man auch sonst zu einem Bild schreiben, das – auch für einen Hobbyfotografen offensichtlich – mit einem Extrem-Tele-Objektiv aufgenommen wurde und das eine Prominente zeigt, deren Brustwarzen sich durch ihr nasses Oberteil drücken?!)

Im kleinen Textblock genügen schon eine kurze Angabe zur Person des Promis und der Name des Ferienortes.

Vier ältere Herrschaften betreten den Zug und setzen sich. Sie kommen von einer größeren Wanderung (Interpretation meinerseits, aufgrund der Wanderschuhe, Kniebundhosen, Rucksäcke und ihrer körperlichen Verfassung).
Die beiden Damen setzen sich in die Mitte und werden von den Herren eingerahmt.

Sie1: Fährd der Zug bis Konschdanz durch?

Er1: I wois ned.

Sie1: Oder bloibd er in Stuagart?

Er1: I wois doch nedda!

Sie1: No missä mir halt den Schaffner frage. Wann kummt der?

Er1: I wois ned.

Sie1: Immer wenn ma den Schaffner brauchd, kummt er ned.

Er1: Mmh.

Sie1: (zu ihrer Nachbarin) Woisch, wenn ma uf dr Schaffner wartet, kummt er ned.

Sie2: Ja, genau!

Sie1: Aber wenn ma dr Schaffner ned brauchd, dann kummt er.

Sie2: Stimmt!

Sie1: Kennsch des au?

Sie2: Ja, total.

Sie1: (zu ihm) Hosch Du unsre Tickets?

Er1: Ja.

Sie1: Bisch dir au sicher?

Er1: Ja!

Sie1: Siehsch?! Da kemma lang uf’n Schaffner warte.

Sie2: Freilich! Wenn ma uf die wartet, kumme se ned.

Er2: (verdreht die Augen zur Decke und schweigt mit verkniffenen Lippen)


Die jetzt folgende peinliche Stille wird etwas durch das fröhlich-aufgeregte Gegacker einiger Prosecco-Lerchen aus dem Nachbarwagon aufgelockert.


„Amy total einsam in London“

(Sind die Londoner alle im Urlaub? Zumindest mein Cousin sollte zuhause sein, doch dieser hat klassische Musik studiert und vielleicht fehlt deshalb eine gemeinsame Basis für längere Gespräche. Ich sollte mich mal wieder bei ihm melden. Sicher ist er auch total einsam in London.)

„Heidi ist total im Stress“

(Was soll ich dazu sagen? Mir wäre es auch lieber gewesen, sie hätte auf die eine oder andere Aktivität verzichtet, z.B. Germany‘s Next Topmodel)

„Sie will Jackos Kinder“

(Es war wohl eine seiner Schwestern gemeint, aber es kommen noch ein paar andere Frauen in Frage)

„In die Psychiatrie eingewiesen“

(Interessiert mich nicht. Ich kenne diesen Typen nicht einmal)

Die hochbrisanten Informationen prallen auf die junge Leserin, die jedoch nicht mit der Wimper zuckt

Umfragen der Woche:

„Hätte Sarah die Finger von Diego lassen sollen?“

„Traust du Robbie ein erfolgreiches Comeback zu?“

„Nimmt sich Megan zu viel raus“

(Ich werde gespannt auf die repräsentativen Ergebnisse warten, die sicher auch in den Nachrichten veröffentlicht werden.)

Sie1: (zu ihrer Nachbarin) Woisch, Früher heds viel mee Schaffner gebn.

Sie2: Ja, genau!

Sie1: Heid gibts viel weniger.

Sie2: Ja, total!


Ich bin hin und her gerissen, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenken soll, doch plötzlich fällt mir die Entscheidung sehr leicht:

In der Zeitschrift der jungen Dame ist auf einem großen Bild zu erkennen, wie Jennifer Lopez an ihrem Kleidchen nestelt, weil sich ihre Haare in einem Knopf verfangen haben. Ich beginne meine Chancen zur Flucht abzuwägen, wenn ich der Frau am nächsten Bahnhof die Zeitschrift entreiße und aus dem Zug stürze …

Die junge Dame mit vorstehender Unterlippe und herabhängenden Mundwinkeln liest konzentriert in der aktuellen Ausgabe „Das neue Echo der Frau mit Herz von Heute im Spiegel“ (Vielleicht war es auch eines der anderen Blätter, deren wichtigstes Interpunktionszeichen das Fragezeichen ist, um Verleumdungsklagen zu vermeiden).

„Hat Sie ein Alkoholproblem?“ prangt auf einer bunten Seite (Diese Frage bezog sich in der aktuellen Ausgabe auf eine bestimmte Sängerin, diese Sentenz wird jedoch sicher als Textbaustein gespeichert, da sie ohne Anpassung später noch für diverse Schauspielerinnen, Girlies oder Prinzessinnen verwendet werde kann.)

Neben den Fragezeichen gibt es auch noch Text.

Wenig (Sehr wenig).

Und große Bilder!

Über einer anderen Seite lautet die Headline „Wasserspiele“

Ebenfalls wenig Text neben einem großen, jedoch etwas körnigen Bild.

Klar! Was soll man auch sonst zum Bild einer Prominenten schreiben, deren Brustwarzen sich durch ihr nasses Oberteil drücken und das (auch für einen Hobbyfotografen offensichtlich) mit einem Extrem-Tele-Objektiv aufgenommen wurde.

Im kleinen Textblock genügen schon eine kurze Angabe zur Person des Promis und der Name des Ferienortes.

Vier ältere Herrschaften betreten den Zug und setzen sich. Sie kommen von einer größeren Wanderung (Interpretation meinerseits, aufgrund der Wanderschuhe, Kniebundhosen, Rucksäcke und der körperlichen Verfassung). Die beiden Damen setzen sich in die Mitte und werden von den Herren eingerahmt.

Sie1: Fährd der Zug bis Konschdanz durch?

Er1: I wois ned.

Sie1: Oder bloibd er in Stuagart?

Er1: I wois doch nedda!

Sie1: No missä mir halt den Schaffner frage. Wann kummt der?

Er1: I wois ned.

Sie1: Immer wenn ma den Schaffner brauchd, kummt er ned.

Er1: Mmh.

Sie1: (zu ihrer Nachbarin) Woisch, wenn ma uf dr Schaffner wartet, kummt er ned.

Sie2: Ja, genau!

Sie1: Aber wenn ma dr Schaffner ned brauchd, dann kummt er.

Sie2: Stimmt!

Sie1: Kennsch des au?

Sie2: Ja, total.

Sie1: (zu ihm) Hosch Du unsre Tickets?

Er1: Ja.

Sie1: Bisch dir au sicher?

Er1: Ja!

Sie1: Siehsch?! Da kemma lang uf’n Schaffner warte.

Sie2: Freilich! Wenn ma uf die wartet, kumme se ned.

Amy total einsam in London (Sind die Londoner alle im Urlaub? Zumindest mein Cousin sollte zuhause sein, doch dieser hat klassische Musik studiert und vielleicht fehlt deshalb eine gemeinsame Basis für längere Gespräche. Ich sollte mich mal wieder bei ihm melden. Sicher ist er auch total einsam in London.)

Heidi ist total im Stress. (Was soll ich dazu sagen? Mir wäre es auch lieber gewesen, sie hätte auf die eine oder andere Aktivität verzichtet, z.B. Germany‘s Next Topmodel)

Sie will Jackos Kinder (Es war wohl eine seiner Schwestern gemeint, aber es kommen noch ein paar andere Frauen in Frage)

In die Psychiatrie eingewiesen (Interessiert mich nicht. Ich kenne diesen Typen nicht einmal)

Die hochbrisanten Informationen prallen auf die junge Leserin, die jedoch nicht mit der Wimper zuckt

Umfragen der Woche:

Hätte Sarah die Finger von Diego lassen sollen?

Traust du Robbie ein erfolgreiches Comeback zu?

Nimmt sich Megan zu viel raus?

Ich warte gespannt auf die repräsentativen Ergebnisse, die sicher auch in den Nachrichten veröffentlicht werden.

Sie1: (zu ihrer Nachbarin) Woisch, Früher heds viel mee Schaffner gebn.

Sie2: Ja, genau!

Sie1: Heid gibts viel weniger.

Sie2: Ja, total!

Ich bin hin und her gerissen, wohin ich meine Aufmerksamkeit lenken soll, doch plötzlich fällt mir die Entscheidung sehr leicht:

In der Zeitschrift der jungen Dame ist auf einem großen Bild zu erkennen, wie Jennifer Lopez an ihrem Kleidchen nestelt, weil sich ihre Haare in einem Knopf verfangen haben. Ich beginne meine Chancen zur Flucht abzuwägen, wenn ich der Frau am nächsten Bahnhof die Zeitschrift entreiße und aus dem Zug stürze …

Translokation

Ich betrat die noch fast leere Turnhalle und legte meine Sachen auf die Gymnastikmatte, die ich im Geräteraum organisiert hatte. Gleich links an der Wand hatte ich mir mein Plätzchen gesucht.

Später am Abend kehrte ich zurück, um die Nacht dort zu verbringen.
Ich fand meine Matte mitten in der Halle vor.

Nicht dass ich keinen Platz gehabt hätte, aber ich hätte erwartet, dass man mich fragt, ob man meinen Platz haben könne.

Zunächst dachte ich, es sei schließlich egal, wo ich schlafe, andererseits sah ich nicht ein, diese Unverschämtheit unkommentiert zu lassen. Da ich jedoch nicht unnötig ausfallend werden wollte, beschloss ich noch einige Male tief durchzuatmen.

Einer jungen Frau in der Nähe schilderte ich den Sachverhalt und fragte sie, was sie davon hielte. Sie fragte mich, ob ich sicher sei, die Matte nicht dorthin gelegt zu haben, wo ich diese auffand.

Welch eine Frage!

Natürlich war ich sicher! Schließlich hatte ich meine Sachen an eine Wand gelegt und jetzt befanden sie sich mitten in der Halle.

Ich malte mir schon aus, die schon schlafende Person auf meinem ursprünglichen Platz an der Wand mitsamt der Matte in die Mitte zu ziehen und „meinen“ Platz wieder zu erobern, als die junge Frau fragte, ob in der Turnhalle am Nachmittag nicht eine Trennwand herunter gelassen war …

Tja, wenn ich es recht überlege, sah die Halle am Nachmittag etwas kleiner aus …

Offenbarung

Er wollte ehrlich mit sich sein – schonungslos. Doch nicht zu lügen, war noch keine Ehrlichkeit.

Durch jahrelange Übung verstand er es, schmerzhafte Fragen zu übersehen oder Antworten zu geben, die keine waren. Solange Fragen und Antworten nur Druckveränderungen in der Umgebungsluft waren und keine sichtbaren, beweisbaren Veränderungen hervorriefen, konnte er sich glauben machen, die Fragen seien andere gewesen oder man er habe etwas anderes geantwortet.
Andere mussten das nicht glauben. Es genügte, wenn er es glaubte.

Erinnerungen waren nicht objektiv und zuverlässig. Sie lebten und veränderten sich. Und mit ihnen wandelten „Wahrheiten“ ihr Gesicht wie die Wolken bei einem Gewitter.

Er hatte sich darauf eingelassen, eine Inventur zu machen. Sich einige Fragen zu stellen – oder nur eine. Nicht abends vor dem Einschlafen, wo die Geister der Nacht die Gelegenheit hatten, die Erinnerung zu einem feinen Gespinnst zu zerzupfen, das sich unter den unruhigen Bewegungen seines Körpers im Schlaf in einen grauen, steifen Filz verdichtete, in dem das einzelne Filament keine Bedeutung, keine eigene Identität mehr hatte.

Zwei Tage würde er schreiben, was ihm in den Sinn kam. Keine innere Zensur – so hatte er sich vorgenommen – sollte den Fluss der Gedanken hemmen.
Begeistert war er von der Idee gewesen.
Klarheit sollte es ihm bringen.
Erkenntnis.
Doch nun brachte es ihm nur eine difuse Unruhe.

Es gab Menschen, die Angst vor der Fremde hatten. Er beneidete sie. Der Fremde konnte er ohne Anstregung fern bleiben. Doch wie schütze man sich vor seinem Inneren?
Was würde passieren, wenn er den Verschluss des Sicherheitsgefäßes entfernte?
Nur ein kurzer, eiskalter, klebriger Schwall wie bei einer geschüttelten Champagnerflasche?
Oder würde er damit eine Quelle schwarzen, zähen, stinkenden Schlamms entfesseln? Den nicht enden wollende Strom einer Masse, die ihm die Atemwege verschlösse, ihm das Licht und die Luft zu atmen nähme?